Faszinierender „Schichtwechsel“
Unsere Kollegin Vera Servatius hat für ein paar Stunden ihren Posten in der Tourist-Info verlassen und mit Susanne Falkenstein von den Rotenburger Werken den Job getauscht. Ihre Eindrücke und Erlebnisse hat sie festgehalten:
Es ist 9 Uhr, als sich die Tür der Tourist-Info öffnet und Christian Nehrke sowie Susanne Falkenstein von den Rotenburger Werken hereinkommen. Mit ihr tausche ich heute am sogenannten Schichtwechsel, einem deutschlandweiten Aktionstag, für ein paar Stunden den Job. Christian und ich fahren anschließend in sein Büro bei den Werken. Der Jobcoach arbeitet bei „AIR – Arbeit in der Region“. Interessant: Christian erklärt, dass bei einer Einstellung eines Menschen mit Behinderung 75 Prozent des Gehalts vom Bund gezahlt werden und nur 25 Prozent vom Arbeitgeber. Leider sei diese Tatsache zu wenig bekannt. Ich erfahre, dass etwa 1.000 Bewohnerinnen und Bewohner auf dem Werksgelände und den vielen Außenstellen wohnen. Die Werkstätten haben 380 Beschäftigte, die zum Teil auch außerhalb wohnen.
Im AIR-Büro treffe ich auf Alexandra Zabel, eine fröhliche, energiegeladene Frau, Bewohnerin der Werke, die mir begeistert von ihrem ausgefüllten Arbeitstag berichtet. Dieser beginnt um 8 und endet um 15 Uhr. Es ist erst unklar, ob sie nun fünf oder sogar sieben Jobs täglich ausübt, aber nach und nach bringen wir Licht ins Dunkel. Alexandra begleitet und unterstützt morgens Mitbewohnerinnen und Mitbewohner aus den Wohngruppen, die nicht ohne Hilfe frühstücken oder sich fertig machen können. Ab etwa 10 Uhr fuhr sie bis vor kurzem mit ihrem E-Dreirad los, um Postgänge für die Verwaltung zu erledigen. Jetzt ist das E-Dreirad leider kaputt und sie muss mit einem normalen Dreirad losfahren, was für sie beschwerlicher sei. Bis zur Mittagspause packt sie dann schwarze Baumwollbeutel, bedruckt mit dem Spruch „Dich schickt der Himmel“ und den bekannten zwei Engelsflügeln.
Nach dem Mittagessen tritt Alexandra ihren Außenarbeitsjob an, von dem sie stolz berichtet. Sie hat ihn sich selbst Anfang 2021 gesucht und kreiert. Alexandra hatte damals mitbekommen, dass ein Bewohner der Werke nicht ins Sanitätshaus Rohde kommen konnte, um seine Hilfsmittel abzuholen. Sie schlug vor, dass jemand diese in solchen Fällen zu den Menschen bringen könne – und wurde genau dafür eingestellt. Ist sie fertig, packt Alexandra nochmal Beutel. Außerdem ist sie seit September 2023 als Nachrückerin Frauenbeauftragte der Werke. Sie hat dafür eine Fortbildung gemacht: „Man muss doch für seine Rechte kämpfen“, findet sie. Nicht zu vergessen ist noch der Botendienst, den Alexandra für die werkseigene Ambulanz übernimmt.
Am Ende dieses Gesprächs frage ich mich, wie ich die Zeit überstehen soll, wenn die Informationen weiterhin mit so viel Power auf mich niederprasseln. Als Alexandra gegangen ist, um ihren nächsten Job anzutreten, verlangsamt sich das Tempo glücklicherweise. Christian hat nun die Gelegenheit, mir von seinem Job zu berichten – oder besser von seinen Jobs.
Sie sind im Büro der AIR zu viert: Nicole Viets und Rudi Müntefering betreuen als Jobcoaches die Bewohnerinnen und Bewohner der Werke, die externe Arbeitsplätze haben. Jana Stapel und Christian Nehrke betreuen jene, die interne Arbeitsplätze bekleiden. Außerdem unterstützen sie den Werkstattrat. Christian hat im Sommer einen ganz besonderen Zusatzjob: Er ist Wespenschutzbeauftragter. Wenn ihm ein Wespennest gemeldet wird, prüft er, ob eine Gefährdung vorliegt und leistet gegebenenfalls Aufklärung. Er darf die Wespenvölker im Notfall auch umsiedeln. Außerdem unterstützt er den Werkstattrat, der aus sieben Mitgliedern besteht.
Im AIR-Büro sitzt auch Rolf Rosenberger, der die Hälfte seiner Arbeitszeit als Büroassistent arbeitet. Die andere Hälfte verwendet er auf seine Stelle als zweiter Vorsitzender des Werkstattrates. Er ist heute leider krank – sonst wäre er derjenige gewesen, der für diesen Tag mit mir den Posten tauscht.
Mitterweile ist es 10 Uhr und damit an der Zeit, in die Nähwerkstatt zu gehen und mir den Arbeitsplatz von Susanne Falkenstein anzusehen. Mitarbeiterin Angela Lünsmann führt mich herum und zeigt mir alles. Alle Mitarbeitenden produzieren fleißig Produkte für den Stand auf dem werkseigenen Weihnachtsmarkt: Taschen und Beutel, kleine spiralförmige Tannenbäume, mit Sand gefüllte Gewichtskissen für Menschen mit ADHS und vieles mehr. Mich beeindruckt eine große, sehr neu aussehende Stickmaschine. Sie sieht hochkompliziert aus. Angela erzählt, dass sie fünf Stunden daran geschult worden seien, damit sie sie bedienen können.
Dann ist es schon Zeit, mit Christian ins Hofcafé auf dem Hartmannshof zu fahren. Er hat mit der Leitung eine Besprechung und wir bekommen Kaffee, Tee und Kuchen. Lecker!
Dort lerne ich eine weitere Mitarbeiterin kennen, deren Geschichte mich tief beeindruckt. Finja wohnt bei ihren Eltern in Rotenburg und arbeitete bis vor kurzem in der Gärtnerei des Hartmannshofes. Dort wurde bis vor einigen Monaten bio-zertifiziertes Gemüse angebaut. Es gab Hühner, Ponys und Kühe, die versorgt werden mussten. Die Arbeit hat Finja großen Spaß gemacht. Doch mittlerweile hat sich dort einiges geändert. Also beschloss Finja, dass sie einen neuen Arbeitsplatz wollte. Sie informierte Christian, dass sie gerne bei Aleco in Rotenburg ein Praktikum machen wolle. Die Arbeit dort machte ihr viel Spaß und die Filialleiterin war sehr zufrieden - Finja hätte sofort anfangen können. Vorher wollte sie aber noch ein Praktikum im Café des Hartmannshofes machen. Danach war schnell klar, dass es genau das ist, was ihr viel Spaß macht und in Zukunft wird sie fest im Café arbeiten.
Ich bin beeindruckt, wie genau Finja Christian ausfragt, zum Beispiel, ob sich ihre Lohngruppe ändere. Bisher fährt sie zudem bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad. Im Herbst und Winter, bei Dunkelheit und Regen, kein Vergnügen. Christian verspricht, sich um eine Busbeförderung zu bemühen.
Bald darauf treten wir die Rückfahrt an. Christian bringt mich noch zu Kerstin Moskon. Sie ist noch nicht lange bei den Werken. Ihren Job als Bereichsleiterin der WfbM (Werkstatt für behinderte Menschen) macht sie mit viel Begeisterung, Enthusiasmus und Empathie für die Menschen, für die sie zuständig ist. Sie hat den „Schichtwechsel“ für Susanne und mich organisiert und träumt davon, mehr Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unterbringen zu können. Sie weiß aber auch, wie schwer das ist, weil nicht jede/-r zu vermitteln ist oder es sich nicht zutraut.
Schon ist es 13.30 Uhr und Christian und ich müssen zurück in die Tourist-Information, wo Susanne schon wartet. Sie hatte einen erfüllten und anstrengenden Tag mit vielen neuen Eindrücken und scheint froh zu sein, wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückzudürfen.
Ich bin indes auch ganz erfüllt von den vielen Gesprächen mit sehr unterschiedlichen Menschen mit und ohne Behinderung. Auch für mich war der Tag anstrengend. Die vielen unerwarteten Eindrücke, die ich von dem Leben und Arbeiten bei den Werken gewonnen habe, haben Kraft gekostet. Ich bin sehr froh, dass ich das Glück hatte, diesen Schichtwechsel mitmachen zu dürfen und zu erleben, wie stolz und selbstbewusst manche der Bewohnerinnen und Bewohner über ihre Arbeit sprechen und ihr Leben managen. Gleichzeitig habe ich mitbekommen, dass die Betreuerinnen und Betreuer eine manchmal zwar anstrengende, aber auch sehr erfüllende Arbeit dort machen.
Mein Fazit zu diesem Tag: Es hat sich sehr gelohnt und meinen Horizont erweitert. Jederzeit gerne wieder!